Heute kommt wieder ein Mann zu Wort, worüber ich mich sehr freue! Dr. Rouven Gehr ist Kulturanthropologe und arbeitet als Paartherapeut und Beziehungscoach.

Ich freue mich sehr, von Ute eingeladen worden zu sein, meine Sicht auf Sexualität und Stimulanzgewohnheiten darzulegen. Meine Perspektive ergibt sich einerseits aus kulturanthropologischer und humanbiologischer Forschung, sowie aus ganz persönlichen Erfahrungen, die ich hier gerne mit dir teilen möchte. Ich wünsche mir, dass dich mein Artikel inspiriert einmal für dich zu prüfen, inwiefern du dich selbst durch deine ganz eigene sexuelle Konditionierung und deine Gewohnheiten in deinem Erleben von Lust und Ekstase beschränkst.

 

Die Komfortzone sprengen

„Der Mensch ist ein Gewohnheitstier“ hieß es in meiner Kindheit häufig. Ich weiß gar nicht, ob sich meine Mutter diesen Satz ausgedacht hat oder er ein Sprichwort ist. Vielen Menschen leuchtet das jedoch ein und auch aus neurophysiologischer Sicht steckt in diesem kleinen Satz viel Wahrheit – danke Mama. Unser Gehirn und unser Überlebensmechanismus arbeiten nach dem Prinzip:

„Was bewährt ist bleibt, was schmerzt und Angst macht, wird vermieden“.

Das sichert das Überleben, lässt aber nur wenig Entfaltungsmöglichkeit und Raum für Neues. Wir handeln und denken ab einem gewissen Alter nahezu nur in den Parametern, die unsere Erfahrungen zulassen. Willst du neues Erfahren, musst du dich entweder in Situationen begeben, in denen du noch keinen Erfahrungen hast – was zumindest mit Unsicherheit und häufig mit Angst verbunden ist – oder ganz aktiv deine Gewohnheiten ändern. Du musst deine Komfortzone, welche selten wirklich komfortabel ist, sprengen. Dazu muss Dir aber zunächst einmal klar werden, wie sehr deine Gewohnheiten dein Leben beschränken. Die Beschränkung geht so weit, dass wir häufig anfangen zu glauben, dass das was wir durch unsere Gewohnheiten erleben, das Ende des für uns möglichen Erlebensspielraumes ist – das ist aber gar nicht so!

 

Sexuelle Konditionierung

In deiner Sexualität erlebst du die Auswirkungen deiner Gewohnheiten sehr drastisch – und damit meine ich nicht, dass du in einer festen Partnerschaft immer mit der selben Person schläfst. Nein, es reicht viel weiter…
Sexologische Studien zeigen, wie früh Kinder sexuell geprägt werden und wie umfassend die Folgen für das spätere Sexualverhalten und Lustempfinden sind. Das geht bereits los im Babyalter, wo enge Windeln nicht nur mechanisch Erregung erzeugen können, sondern dies auch psychisch mit unterschiedlichen Gefühlen verknüpft wird. Es wurde beobachtet, wie Babys durch verschiedene Körperhaltungen extra Druck auf ihren Genitalbereich verstärken und dabei einen entrückten und geradezu ekstatischen Zustand erreichen. Nur werten die Eltern so was in aller Regel nicht als sexuell. Zu verallgemeinern ist da gar nichts und vorhersehbar auch nicht, jedoch kann dann später eben genau diese Enge und der Druck auf den Genitalbereich zu hoher Erregung führen – oder gerade eben nicht, was dann zur Folge hat, dass sobald die Genitalien frei und luftig sind, Erregung eintritt.

 

Onanie

Viel klarer wird das Ganze, wenn du dir deine frühe bewusste Auseinandersetzung mit Lust und Erotik anschaust. Erinnere dich, wie es mit Onanie und lustvollen Berührungen bei dir losging. In aller Regel musste dies geheim und unbemerkt passieren. Wir haben alle Wege gefunden, dies umzusetzen. An laut Atmen oder gar Stöhnen war gar nicht zu denken. Zudem musste es schnell gehen und es hatte den Touch von etwas Verruchtem. Ganz zu Schweigen von den ganzen Geschichten über durch Onanie verursachte Blindheit, Unsittlichkeit oder Perversion, die da ausgesprochen oder zwischen den Zeilen im Raum standen.

 

Die meisten von uns haben ihre ersten bewussten sexuellen Erfahrungen also in der Regel in einem Kontext von unbemerkt bleiben müssen, etwas geheimes, vielleicht sogar verbotenes tun und schnell zum Ziel kommen gemacht. Das gilt sowohl für Männer als auch für Frauen.

 

Optimierte Lust

Bei mir war es so, dass ich in meiner frühen Pubertät über ein paar Jahre täglich und viel onanierte. Ich bilde mir bis heute ein, dass es keiner bemerkte. Ich „optimierte“ die Zeiten dafür auf eine übliche Länge von Klogängen, damit nicht auffiele, dass ich nicht einfach nur auf Klo gehe. Ebenso unter der Dusche, etc. Es ging darum, schnell fertig zu werden.

Genau so ging es vielen Jungen und so geht es Jungs noch heute. Bei Mädchen zeigt sich diese Phase seltener in alltäglichen lustvollen Intermezzi sondern in abendlichen Berührungen oder solchen in der Badewanne. Hier geht es weniger um das „schnell fertig werden“ wie bei den Jungs, als um „bloß leise und still“, damit unbemerkt zu bleiben. Beide Verhalten zeigen sich heute in typischem Sexualverhalten, sofern du es nicht geschafft hast, dieses Muster irgendwann zu durchbrechen.

 

Die Ersten werden die Letzten sein

Bei Jungen nimmt diese frühe Begegnung mit Sexualität krasse Ausmaße an, die sich ja schon in der Sprache zeigen. Jungen „keulen“ und „rubbeln“ sich einen, meist hart und schnell, mit fest umschlossener Faust. Sie „holen sich einen runter“ – statt genießen zu können, wenn er steht. Sie „wedeln sich einen“, „wichsen“, sie „spritzen ab“, und dann, als Erwachsene leiden sie unter (gefühlt) verfrühter Ejakulation. Zum Glück sind mir damals Freundeskreise erspart geblieben, in denen das „Gruppenwichsen“ üblich war. Sehr viele Junges machen aber diese Erfahrung, wo mehrere rattenspitze pubertierende Jungs im Kreis stehen und „um die Wette wichsen“. Der Witz ist, wer zuerst kommt hat gewonnen. Manche Spiele dieser Art beinhalten einen Keks, auf den gewichst wird, und der letzte muss ihn unter Gruppenzwang essen.

Soweit geht es sicher nicht immer, jedoch zeigt sich ganz klar, wie wir uns über Jahre selbst konditionieren und uns die Außenwelt mit Normen und dem gehemmten Umgang mit offener Sexualität formt.

 

Das Resultat ist, dass es sich bei Jungs tief einbrennt, dass es bei Sex um ein Ziel geht – der Orgasmus, der mit einem Samenerguss einhergeht.

 

Der Weg dahin ist gewohnheitsmäßig schnell, fordernd und hart. Eine steile Erregungskurve führt zu einem kurzen, schnellen Peak mit einer explosionsartigen Entladung, welche mit schmerzverzerrtem Gesicht und zusammengekniffenen Arschbacken erlebt wird. Schon während des Orgasmus, muss aufgepasst werden, dass ja nichts daneben geht. Schon kurz danach ist alles vorbei – Ziel erstmal erreicht –, wie damals, als ich aus dem Klo kam und man mir nichts anmerken sollte.

Später, wenn Sexualität mit Mädchen und Frauen erlebt wird, verlagert sich das Ziel vom schnellen erreichen des eigenen Höhepunkts, hin zu dem krampfhaften Versuch der Partnerin einen Höhepunkt zu verschaffen.

Jungs wollen es „ihr besorgen“, es „ihr machen“. Weil Jungs Sexualität nie anders gelernt haben als hart, schnell und Ziel fokussiert, versuchen sie es durch „bumsen“, „ficken“, „rubbeln“, „penetrieren“. Das Dilemma dabei ist, dass bereits jetzt schon das ursprüngliche Ziel des schnellen Höhepunktes überhaupt nicht zu den Bedürfnissen der Partnerin passt. Sie lässt es aus Scham oder mangelnder Erfahrung mit sich machen, schneidet darüber hinaus ihre Gefühle mehr und mehr ab und spielt ihm und sich selbst irgendwann letztlich einen Orgasmus vor, dessen Charakter der eines männlichen „Rubbel-Höhepunktes“ ist – auch genährt durch Pornos; schnell, wild, krampfig – und schnell wieder verflogen.

Das früher durch Poker-Face-Onanie erzeugte Prägungsmuster zeigt sich dann am Einschlafen direkt nach dem Sex – fertig und vorbei. Oder eben durch direktes Losquatschen, Rauchen oder Aufstehen und duschen gehen. Beide, zumindest aber Männer, haben tief in sich sitzende Gewohnheiten, die das ursprüngliche Bedürfnis nach Nähe und Sexualität als schlagartig beendet ansehen. Was bleibt ist ein Gefühl von Leere und Unzufriedenheit, welches durch verzerrt pornoartige Heldengeschichten weggeredet wird oder als Traurigkeit immer mehr verdrängt wird, bis es nicht mehr gefühlt werden darf.

 

Dein sexuelles Selbstbild revolutionieren

Das funktioniert so aber nicht. Es zeigt nur, dass Männer eben nicht „nun mal so sind“ und Frauen sich eben in ihren Nähebedürfnissen herunterschrauben sollten. Ganz im Gegenteil! Die gute Nachricht lautet, dass wir unsere Prägungen erkennen können und uns umgewöhnen können. Dazu müssen wir unser sexuelles Selbstbild massiv in Frage stellen lassen. Wenn du ein Mann bist, der durch wahnsinns Techniken jede Frau zu astronomischen Orgasmen bringen kannst, wird es dir vielleicht schwer fallen, diese Techniken aufzugeben und zu schauen was bleibt, wenn du deinen Frauen fernab von Methode und Know-how aber eben wirklich offen und tief begegnen kannst. Wenn du eine Frau bist, die genau weiß, was sie will und sich dies einfordert und gegebenenfalls auch holt, dann frag dich, wie viel Kompensation deiner eigenen sexuellen Prägung steckt da dahinter und wie viel hat das mit echter Begegnung und nackter intimer Nähe zu tun.

Nichts gegen klare Vorstellungen, schnellen und wilden Sex und dann und wann ganz klar zielorientierte Techniken – das macht Spaß. Jedoch schneiden diese letztlich vom eigentlichen Gefühl ab.

Sie bedienen langfristige Prägungen sowohl rein körperlich als auch psychisch und emotional. Wenn du als Mann zum Beispiel jeden Anspruch fallen lassen würdest, deiner Partnerin einen Orgasmus zu verschaffen, oder du als Frau deinen Partner davon freisprichst, dann könntet ihr ganz neue Formen und Arten von Nähe, Sexualität und Erotik zelebrieren.

Wenn das Ziel nicht mehr der Höhepunkt ist, weder seiner noch ihrer, sondern die Lust selbst, dann trennen sich für den Mann Ejakulation und Orgasmus und es werden ekstatische Plateaus auch für ihn möglich. Die nicht zielgerichtete Berührung, die intentionslose Sexualität ist nicht ohne Grund das, was in vielen erotischen Praktiken und sexuellen Lehren einen Schlüssel darstellt.

 

Revolutioniere deine Onanie

Die einzige Hürde, sich aus der Gewohnheit des Erlebens und Auslebens deiner Sexualität zu befreien, ist die Gewohnheit selbst. Hier dienen Techniken wie Tantra, Orgasmic Meditation oder Slow Sex der Umkonditionierung dahin, dass du bald keine Methoden und Techniken mehr brauchst, sondern einfach spürst und machst, fühlst und liebst. Der Weg dahin macht unheimlich viel Spaß und lässt dein Sexualleben von jetzt auf gleich neu erblühen. Dabei gibt es aber auch dämpfende Erfahrungen und Rückschläge, was aber nur zeigt, wie sehr du in deinen Gewohnheiten steckst. Es lässt dich ganz neue Ebenen mit deinem Partner bzw. deiner Partnerin erleben und verbindet innig.

Vielleicht weil ich selber einer bin, sehe ich ein Hauptproblem was wirklich erfüllende Sexualität jenseits von Methoden betrifft in der Zielfokussierung des Mannes auf den Orgasmus. Bei der Selbstbefriedung der eigene, beim Sex der Orgasmus der Frau. Dabei empfinden mehr als die Hälfte aller Männer, dass sie zu früh und zu unkontrolliert Ejakulieren. Kein Wunder, wenn sie sich seit Kindestagen auf schnelles „Abspritzen“ bis selbst ins Erwachsenenalter bei jeder Selbstbefriedigung darauf konditionieren. Viele Männer holen sich im Laufe des Tages mal eben einen runter – Liebe Männer hört auf damit! Ihr versaut euch euer Sexualleben!

Revolutioniere deine Onanie.

Genieße die Gefühle, die Erregung, stimuliere dich und vergiss den Orgasmus. Fühle mehr, mach weniger. Lerne mit dir zu spielen, finde heraus, was sich auch noch schön anfühlt, lerne dich neu zu berühren.

Fang damit an, einfach die andere Hand zu nehmen und sei konsequent. Versuche einmal dich überall zu berühren – nur nicht an deinen Geschlechtsteilen – und dennoch zum Orgasmus zu gelangen. Dann wiederum mach es dir, aber hör als Mann immer wieder vor dem Orgasmus auf, noch bevor du den „Punkt ohne Wiederkehr“ erreicht hast. Ich gehe jede Wette ein, dass es schwer für dich sein wird, deine Gewohnheit zu durchbrechen, wenn du versuchst es sieben mal in einer ausgedehnten Selbstbefriedigungszeremonie nah dran kommen zu lassen und dann wieder die Finger wegzunehmen, damit die sexuelle Energie sich in deinem Körper verteilen kann. Dann, beim siebten Mal, wirst du deinen Orgasmus ganz verändert erleben.

All dies kannst du auch zu zweit machen – was unglaublich verbindend ist. Findet heraus, was ihr auch noch mögt und sobald ihr etwas gefunden habt und es zu stoischem Rein-Raus wird, sucht etwas Neues. Falls du es nicht bereits tust, versuche einmal, dich über den Anus zu stimulieren, oder stimulieren zu lassen. Mach alles, was du willst, aber mach es bewusst und ganz neu! Der Fantasie und den Möglichkeiten sind keine Grenzen gesetzt und es braucht dafür keine großen Techniken oder Hilfsmittel.

 

Den Orgasmus feiern

Ein Begleiteffekt der vor allem männlichen Prägung durch frühe Sexualität ist, dass der männliche Orgasmus völlig unspektakulär geworden ist. Höchstens durch das Abspritzen gibt es für manche noch einen gewissen Reiz. Der Orgasmus der Frau jedoch ist – zu Recht – mystifiziert, hochgepriesen und füllt Ratgeber und Bücher. Das ist in Ordnung und auch wichtig so. Versuch jedoch mal, dich mit dem männlichen Orgasmus genauso auseinander zu setzen. Ich meine nicht letztlich den „Keul-Rubbel-Abspritz-Orgasmus“ sondern die sich steigernde und präsent gehaltene orgastische Kraft, zu der auch der Mann fähig ist. Dies schaffst du, wenn du anfängst den männlichen Orgasmus in jeder Form, und da anfangs auch in der harten „Rubbelvariante“ voll zu feiern. Mein Rat an jede Frau, dessen Mann unter Ejaculatio praecox leidet, lautet, mach es deinem Mann und feiere seinen Orgasmus, feure ihn an, verlange seinen Orgasmus. Das muss authentisch sein, am besten, wenn ihr mitten beim Sex seid. Anfangs geht das vielleicht dann sehr schnell. Es ist jedoch ein probates Mittel vieler Sexualtherapeuten gegen vorzeitigen Samenerguss. Das Verhältnis des Mannes zu seinem Orgasmus verändert sich dadurch.

 

Reden – Spielen – Fühlen

Ich empfehle dir, dir über deine eigenen sexuellen Prägungen klar zu werden und in der Onanie anzufangen, einfach mal völlig andere Sachen zu machen. Die Onanie zu zelebrieren und nicht zielgerichtet vorzugehen, sondern einfach der Erregung auf neuen Wegen zu folgen. Rede über deine frühe Zeit der sexuellen Prägung und erforsche die Zusammenhänge zu deinem Sex heute. Rede darüber, was Sex für dich für einen Zweck erfüllt, was Sinnlichkeit für dich bedeutet, was in dir vorgeht beim Sex, was deine Wünsche und Ängste sind und an welchem Punkt du immer wieder in alte Muster zurückfällst. Mach Spielregeln mit deinem Partner ab und erfahre dich mit ihm oder ihr neu. Werdet wieder sinnlich und erlebt euch selbst und eure Partner völlig verändert. Nutzt dafür den wertvollen Schlüssel der Onanie – gemeinsam und allein.

Dr. Rouven Gehr

Dr. Rouven GehrDr. Rouven Gehr ist Kulturanthropologe und arbeitet als Paartherapeut und Sexualcoach in Saarbrücken. Er begleitet Menschen hin zu mehr Potentialentfaltung und Erfüllung in Beziehungen und ihrer Sexualität. Mit Methoden aus der sexologischen Körperarbeit und der fernöstlichen Bewegungskunst hilft er Männern und Frauen, einen freien und lebenslustvollen Selbstausdruck zu finden. Er leitet jährlich eine Männergruppe zur Erforschung zeitgemäßer und authentischer Männlichkeit und bietet darüber hinaus Seminare für die heilsame Begegnung zwischen Männern und Frauen an. Mehr zu ihm findest du hier:

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c/ Foto: M. Weber

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